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Elftes Kapitel
Für Boris Bekleschéff war aber der
Augenblick noch nicht gekommen, Beschlag auf die
Briefe zu legen, welche Vera so fleißig und
so regelmäßig nach Paris sandte. Ehe
die Entscheidungsschläge fielen, mußte
das Terrain entsprechend vorbereitet werden um
der beabsichtigten Wirkung ganz sicher zu sein.
In der Petersburger Gesellschaft fing man um diese
Zeit an, viel von dem lustigen Leben zu sprechen,
welches Wladímir Ostróvski in Paris
führe. Man erzählte sich von dem großen
Beifalle und den Erfolgen, die er dort unter der
weiblichen Welt habe. Es wurden mit Discretion
und unter dem Siegel der Verschwiegenheit Namen
bekannter Damen genannt, deren besonderes
Wohlwollen ihm zu Theil geworden sei und in den
Clubs theilte man sich Anecdoten über seine
Extravaganz im Geldausgeben mit. Fast jeden Tag
kam irgend eine neue Geschichte zum Vorschein,
welche in den Salons der Hauptstadt rasch die Runde
machte und in aller Munde war.
Bei der allgemeinen Beliebtheit deren sich Wladímir
in Petersburg erfreute, war es nicht zu verwundern,
daß pikante Details, welche auf seine Person
Bezug hatten, das Interesse seiner vielen Bekannten
in Anspruch nahmen. Die Klatsch- und Skandalsucht,
in großen Städten nicht weniger vorherrschend
als in kleinen Orten, bemächtigte sich Wladímirs,
als eines erwünschten und dankbaren Gegenstandes,
welcher einen nie versagenden Stoff zur Unterhaltung
abgab.
Es dauerte nicht lange, so fanden diese Geschichten
den Weg nach Paris, wo sie nicht verfehlten Ostróvski
zu Ohren zu kommen. Er belächelte nur diese
müßigen Erfindungen und hielt es
unter seiner Würde denselben entgegen zu treten:
er war sich ihrer Grundlosigkeit bewußt
und fühlte sich von jedem Vorwurf frei, den
man ihm hätte machen können.
Gerade im Gegensatze zu dem, was man in Petersburg über
ihn erzählte, führte er in Paris
ein sehr solides und ruhiges Leben, wie man es
bei seinen jungen Landsleuten dort selten
gewohnt war zu sehen. Den größten Theil
des Tages arbeitete er auf der Botschaft; den Abend
benutzte er zur Erfüllung seiner gesellschaftlichen
Pflichten, oder zum Besuche des Theaters, welches
er leidenschaftlich liebte: erlaubte es seine Zeit,
so gab er sich in den Museen dem Studium der Kunst
hin.
Diese Thatsachen waren seinen Freunden in der Heimat
nicht bekannt oder sie wurden von ihnen ignoriert,
da sie lieber den Cancans Glauben schenkten, welche über
ihn im Umlauf waren. Bei den Grómoffs hatten
sie auch Eingang gefunden.
Lange Zeit wehrte sich Vera in ihrem Herzen da-gegen,
die Gerüchte als Wahrheit anzuerkennen.
Sie vermochte an keine Veränderung in Wladímirs
Gefühlen zu glauben: er konnte in so kurzer
Zeit nicht seine Liebe schon vergessen, sich der
ihrigen unwürdig gemacht haben. Aber
mit so vieler Beharrlichkeit hörte sie dieselben
Geschichten wiederholen, mit so großer
Ausführlichkeit wußte man sie zu erzählen,
daß Vera in ihrem Vertrauen am Ende
doch wankend wurde und aufhören mußte
zu zweifeln, wo den Anderen schon seit lange[m]
kein Zweifel mehr geblieben war...........................
Nachwort
Der hier erstmals im Original veröffentlichte
Roman Vera Petróvna stellt den größten
Teil eines in deutscher Sprache verfassten Manuskriptkonvoluts
dar, das vermutlich in den späten 1870er Jahren
entstand und seither in der Familie von Merenberg
von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Von Europa gelangte der Stapel loser Blätter,
dicht in altdeutscher Schrift beschrieben, nach
Argentinien – und unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg von dort zurück nach Wiesbaden,
als Erbe der in Buenos Aires verstorbenen Alexandra
de Elia, geborene von Merenberg. Erst vor wenigen
Jahren schließlich nahm die heutige Erbin,
Clotilde von Rintelen, geborene von Merenberg,
das „argentinische Päckchen“ genauer
in Augenschein und entdeckte das Resultat
einer bislang unbekannten literarischen Tätigkeit
aus dem späten 19. Jahrhundert: Neben dem
vorliegenden Roman fanden sich eine in Bad Ems
und Ungarn spielende, im Original titellose Erzählung,
deren Hauptfigur den Namen Myra trägt, sowie
eine „Geistergeschichte“ und einige
politische Betrachtungen.
Das Titelblatt des 305 Manuskriptseiten umfassenden
hier vorliegenden Textes trägt einen russischen
Namen mit deutschem Adelspräfix: „Vera
Petróvna von Sutároff“. Diesen
fremd anmutenden Namen erklärt zunächst
weder ein Untertitel noch irgendein Hinweis auf
den Autor. Erst die Lektüre verrät, dass
es sich bei Vera Petróvna von Sutároff
um die Protagonistin des – ganz offensichtlich
als Roman angelegten – Textes handeln muss,
auch wenn der Name „von Sutároff“ nie
erwähnt wird, Vera Petróvna zunächst
Grómoff, dann Bekleschéff, schließlich
Ostróvski heißt. Und nur die Intrige
und die Handlungsumstände, das russische Umfeld,
verweisen letztendlich auf die einzig mögliche
Autorin: Natalja Alexandrovna, Gräfin
von Merenberg. Neben seiner abenteuerlichen Überlieferung
gewinnt der Text damit an Interesse durch die illustre
Herkunft seiner Autorin, denn die Gräfin,
die den Titel von Merenberg unmittelbar vor
ihrer Heirat mit Prinz Nicolas zu Nassau verliehen
bekam, war die jüngste Tochter des wohl berühmtesten
russischen Dichters, Alexander Sergeevič Puškin.
Der stark autobiographisch inspirierte Roman Vera
Petróvna spiegelt – wenn auch verfremdet – den
bewegten ersten Teil ihres Lebens wider.......................
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